Mit Scharfzüngigkeit und Ironie
Ensemble um Regisseur Wacker überzeugt im Amphitheater mit der Büchner-Komödie „Leonce und Lena"

Hätte der 1813 in Goddelau bei Darmstadt geborene Dramatiker Georg Büchner sich duellieren müssen, er hätte zweifelsohne zu der Waffe gegriffen, die er so meisterlich beherrschte: der spitzen Zunge, beziehungsweise der spitzen Feder. Von der Scharfzüngigkeit Büchners konnten sich die Zuschauer im Amphitheater bei der Aufführung von „Leonce und Lena" ein Bild machen, die als Sonderveranstaltung im Rahmen der BrüderGrimm-Märchenfestspiele unter der Regie von Franz Wacker und Assistentin Ingrid Hoffmann über die Bühne ging.
Anliegen der märchenhaften Komödie, die sich nur vordergründig des romantischen roten Fadens um die Liebe der beiden Königskinder Leonce und Lena rankt, ist die Abrechnung mit der dem fortschreitenden Verfall unterliegenden herrschenden Klasse und den politischen Verhältnissen des 19. Jahrhunderts. Während das Volk hart ,arbeitet, verstricken sich die Privilegierten in einem Netz aus Regularien und Konventionen. Wie ist ein „nützliches Mitglied der Gesellschaft beschaffen", worin besteht der Sinn des Lebens und wie ist das Paradoxon zwischen den äußerlichen Grenzen des Ichs und den innersten Bedürfnissen aufzulösen? Diese Fragen haben den im politischen Widerstand aktiven und schwermütigen Büchner, der mit nur 24 Jahren gestorben ist, umgetrieben.
Regisseur Franz Wacker, der im Amphitheater selbst in der Rolle des Königs Peter zu sehen ist, hat die Komödie mit seinem aus neun Personen bestehenden Schauspieler Ensemble geschickt zwischen Romanze und Zeitgeist Kritik angesiedelt. Die Sprachspielereien werden besonders in den Gesprächen zwischen dem gelangweilten Königssohn Leonce (Alexander Morandini) und seinem von Christof Fleischer blendend gespielten Gefährten Valerio zum Angriff auf alles, was das Leben der Aristokraten und der herrschenden Klasse ausmacht: Während der Höfling Valerio respektlos und tiefgründig alles kritisiert und analysiert, was sich vor seinen Augen abspielt, kämpft Leonce mit Langeweile und Überdruss. Versuchen König Peter und seine Hofschranzen die Melancholie in der Glanzzeit der höfischen Gesellschaft mit einem strengen Tabu belegt mühsam durch Etikette und das Zeremoniell zu überdecken, setzt sich Leonce offen damit auseinander. „Mein Leben gähnt mich an wie ein großer Bogen Papier, der voll geschrieben werden will", heißt das in Leonces Worten. Doch Leonce ist gefangen. Zwar ist er der Langeweile überdrüssig, doch findet er aus ihr keinen Ausweg. Schließlich ist für den Sohn von König Peter jede Tätigkeit die Flucht vor eben dieser Langeweile und damit ein sinnloser Zeitvertreib. „Wir müssen was treiben", stachelt er Valerio an.
Der innerlich zerrissene und suchende Leonce verweigert sich nicht nur dem Zeremoniell und der Geschäftigkeit des Hoflebens, er flieht auch vor der für ihn vorgesehenen Ehe mit der unbekannten Königstochter Lena aus dem Reiche Pipi.
Als lächerlich und fragwürdig skizziert Büchner das Verhalten der herrschenden Klasse mit seiner Figur des Königs Peter, der in Franz Wacker eine wunderbare Entsprechung findet: Dekadent, konfus, lebensfremd und lächerlich muss sich der Herrscher einen Knoten ins Taschentuch machen, um sich an sein Volk zu erinnern. Die Ankleideszene, die den vertrottelten unbeholfenen Alten in Unterhosen zumindest äußerlich durch Perücke und prächtiges Gewand zum Herrscher mutieren lässt, ist eine der Schlüsselszenen des Stücks und zeigt im Zeitraffer die Verwandlung des Gewöhnlichen zum Souverän. Dass dies mit Humor und Wortwitz geschieht, sorgt für die Leichtigkeit in der anspruchsvollen Darbietung. So wird der offene Hosenlatz König Peters beschrieben als „der freie Wille, der vorne ganz offen steht".
Auch die naive Prinzessin Lena (treffend verkörpert von Thordis Howe) entflieht vor einer Ehe, die sie nicht will. Doch das Schicksal führt die beiden Flüchtenden zusammen, die sich ineinander verlieben ohne des anderen Identität zu kennen. Sie philosophieren über den Zusammenhang zwischen Liebe und Zeit: „Heiraten heißt, Leben und Lieben eins sein zu lassen°. Als die beiden sich am Ende bei Hofe einfinden und vermählt werden, verwandeln sich die Menschen aus Fleisch und Blut in mechanische Wesen, die wie Aufziehpuppen funktionieren. Valerio kommentiert das Geschehen so: „Die Mechanik (der Ehe) ist in Gang gesetzt, und das Uhrwerk läuft 50 Jahre". Der König fühlt sich am Ende ebenso betrogen wie Leonce und Lena, die wieder ins höfische Zeremoniell eingebunden sind. König Peter gibt die Macht in die Hände seines Sohnes und beginnt nun „ungestört zu denken".
Die Inszenierung von Franz Wacker und seinem Ensemble, mit der erstmals ein klassisches Theaterstück auf die Bühne des Amphitheater Einzug gehalten hat, war ein Glücksgriff Bleibt zu hoffen, dass die Mühen des Teams neben Wacker, Morandini, Howe und Fleischer in den Hauptrollen spielten Ingrid Hoffmann (Gouvernante), Michaela Wiebusch (Rosetta) sowie Werner Rech, Günther Hauptkorn, Katharina Engler und Jenny Hammelmann durch künftige Auftritte belohnt werden.

Jutta Deger Peters (HA)